Weltempfänger

Die Litprom-Bestenliste Weltempfänger

Der Weltempfänger Nr. 46 | Frühling 2020

Im Frühjahr 2020 begibt sich der Weltempfänger nach Peru, Trinidad, in den Irak, nach Südafrika, Nigeria und Japan. Wir treffen hoffnungsvolle und desillusionierte Charaktere: den Comic-Helden Alack Sinner, eine neue Variante des Frankenstein-Monsters, eine mordende Schönheit, einen von Schönheit Besessenen und viele weitere.

»Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten« ist ein literarischer Abschied von der indigenen Kultur Perus — und gleichzeitig die Ankündigung des Suizids von José María Arguedas im Jahr 1969.
In »Eine hellere Sonne« von Samuel Selvon ist der Protagonist wild entschlossen, sich im Trinidad der Vierzigerjahre ein besseres Leben aufzubauen.
Hochaktuell dagegen ist »Frankenstein in Bagdad«: Ahmed Saadawi verlegt den berühmten Stoff in den Irak, der Roman spielt zwei Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins.
Die Graphic Novel »Alack Sinner«, ein Schwergewicht im wahrsten Sinne des Wortes, versammelt alle Geschichten um die bekannte Figur von Muñoz und Sampayo erstmals in einem Band.
Mit »Kollektive Amnesie« wurde die junge Lyrikerin Koleka Putuma in ihrer Heimat bekannt — ihre Gedichte erkunden, was es bedeutet, eine Frau im heutigen Südafrika zu sein.
In Oyinkan Braithwaites »Meine Schwester, die Serienmörderin« kommt die mordende Schönheit stets davon, die Schwester putzt hinter ihr her.
Von Schönheit besessen ist auch der Protagonist in »Der goldene Pavillon« von Yukio Mishima, einem der wichtigsten Vertreter der japanischen Nachkriegsliteratur.

Der »Weltempfänger« Nr. 46 / Frühling 2020 steht als PDF zum Download zur Verfügung und kann auch gern als Plakat bei Litprom angefordert werden: litprom@buchmesse.de


1. »​​​Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten« José María Arguedas PERU

Roman. Aus dem peruanischen Spanisch von Matthias Strobel. Verlag Klaus Wagenbach. 320 Seiten. 25,00 €

Zur Hälfte Roman, zur Hälfte Ankündigung eines Selbstmords – und zur Gänze voller Zorn. Arguedas wettert gegen die Diskriminierung der Indigenen durch die Kolonialweißen Perus, er wütet gegen Schriftstellerkollegen und sich selbst. Die wunderbar übertragenen Füchse rücken einem dampfend auf den Leib. Jörg Plath

»Arguedas übt Kapitalismuskritik. Aber der Vorwurf, er idealisiere die Indigenen und verteufele die westliche Moderne und deshalb tauge seine Literatur nichts, wird ihm nicht gerecht. Einerseits, weil auch in ›Der Fuchs von oben und der Fuchs von unten‹ diese zwei Welten und ihre Menschen längst auf komplexe Weise miteinander verwoben und oft Gut und Böse nicht klar zuzuordnen sind. Andererseits, weil wir es hier mit großer Literatur zu tun haben. Die ist mal ganz realistisch nah dran an der Gesellschaft, dann wieder fantastisch, mythisch oder archaisch entrückt, immer aber von einer überwältigenden Bildkraft.« Tobias Wenzel für den NDR

»Jetzt, da die Indigenen in Peru, Ekuador und Bolivien um ihre traditionellen Rechte und um mehr Anerkennung kämpfen, erhalten die Werke von Arguedas wieder größere Aufmerksamkeit, enthalten sie doch viele Schlüssel zu dieser uns weitgehend unbekannten Welt der Quechua-Kosmogonie. Ein immenses Lob verdient zudem Matthias Strobel. Die Übertragung dieses sperrigen Romans mit seinen vielen Brüchen, den Selbstzweifeln, Indigenismen, sozialen Anklagen und lyrischen Passagen war eine riesige Herausforderung: Der Übersetzer hat sie meisterhaft bewältigt.« Michi Strausfeld für Literaturkritik


2. »​​​Eine hellere Sonne« Samuel Selvon TRINIDAD

Roman. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. dtv Literatur. 256 Seiten. 22,00 €

Zwei gegensätzliche Paare begegnen einander in den 1940er Jahren auf Trinidad; eines indischer, das andere afrikanischer Herkunft. Ein naiver Mut bestärkt sie im Kampf gegen ihr Schicksal. Sie reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist. So wird das „Kreolische“ erstmals Literatur. Mundgerecht übersetzt. Ruthard Stäblein

»›Eine hellere Sonne‹ bietet nicht nur zwischen den Zeilen eine harte Geschichte über Menschen, die von ihrem Leben und Herkommen schwer beschädigt worden sind. Jedes Kapitel beginnt mit politischen und wirtschaftlichen Nachrichten aus den Kriegsjahren […] und nichts, was den Protagonisten zustösst oder was sie selbst anrichten, wird abgefedert oder gar entschuldigt. Selvon folgt seinen Figuren protokollartig knapp, er nimmt Sprünge und Brüche in Kauf und überantwortet seine überforderten Charaktere einem offenen Romanende.« Michael Schmitt für die NZZ

 »Umso größer ist das Vergnügen der heutigen Leser: Miriam Mandelkow, die schon die hinreißend pikaresken ›Taugenichtse‹ in ein becircend vertracktes Deutsch übertragen hatte, zeigt nun auch in ihrer Übersetzung des Romans ›Eine hellere Sonne‹, dass karibischer Slang sehr wohl literaturwürdig ist, fluid und verständlich sein kann und neue Erfahrungswelten öffnet.« Marko Martin für Deutschlandfunk Kultur

»[Samuel Selvon] hat, sprachlich und thematisch, den Weg gewiesen für eine Literatur der karibischen Diaspora, in London, New York und anderswo. Jahrzehnte vor dem Siegeszug des "hybriden", "postkolonialen" Schreibens aus dem "globalen Süden" hat Selvon seiner Insel zu einer literarischen Artikulation verholfen, die es bis dahin nicht gab.« Christoph Bartmann für die Süddeutsche Zeitung


3. »​​​Frankenstein in Bagdad« Ahmed Saadawi IRAK**

Roman. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Assoziation A. 288 Seiten. 22,00 €

Frankenstein reloaded: Ein unheimliches Wesen, zusammengesetzt aus Körperteilen von Anschlagsopfern, wird über die Suche nach innerem Frieden zum Serienmörder. Irre, eine wilde Hatz durch alle möglichen Genres – man muss schon pumpen, um der monströsen Realität den Zerrspiegel vorzuhalten. Ein Fest des Erzählens. Ulrich Noller

»Auf bravourös lapidare Weise führt uns der Autor vor, dass ein Frankenstein-Monster im Bagdad unserer Zeit etwas vollkommen Normales ist. Wenn überall ständig Leichenteile durch die Gegend fliegen, weil schon wieder eine Bombe explodiert ist, wenn man ständig über diese Leichenteile stolpert, dann ist es doch nur naheliegend, dass jemand anfängt, sich um die nebensächlichsten aller Kollateralschäden zu kümmern.« Robert Brack für Culturmag

»Die Assoziation A ist eine verlässliche Adresse für antikapitalistische Literatur aller Gattungen. Mit Ahmed Saadawis ›Frankenstein in Bagdad‹ legt sie einen fantastischen Roman vor, einen Schauerroman, der mit Witz und Fantasie erzählt, wie der Irak seine unmenschliche Gestalt bekam. Ein großer Wurf.« Thekla Dannenberg für Perlentaucher

»Mit leichter Hand mischt Ahmed Saadawi Elemente realen und fiktiven Horrors, Fantasy, Sozialstudien sowie intertextuellen Anspielungen auf das Original. Nach das Grausamste erzählt er in einem leihtfüssigen Tonfall, ohne dabei dessen ernsten Hintergrund, das Leid der Menschen, zu verraten.« Susanna Petrin für das Tagblatt

»Egal ob es um politische Ränkespiele, familiäre Streitigkeiten, erotisches Begehren, wilde Immobilienspekulation oder religiösen Eifer geht, der mordende Untote – die irakische Frankenstein-Figur – bleibt, selbst wenn er ab und zu auch in den Hintergrund tritt, das verknüpfende Element in diesem rasanten Roman, der mit einem fulminanten Ende aufwartet.« Florian Schmid für der Freitag



4. »​​​Alack Sinner« Carlos Sampayo und José Muñoz ARGENTINIEN

Graphic Novel. Aus dem Spanischen von André Höchemer. Avant-Verlag. 704 Seiten. 49,00 €

Endlich eine deutschsprachige Gesamtausgabe des Alack-Sinner-Zyklus (1972-2006). Ein Meisterwerk der Neunten Kunst, in dem die beiden Argentinier aus innerer Notwendigkeit Graphic Novel, Kriminalliteratur und Jazz genial zusammenbringen. Virtuos, visionär und halluzinant. Epochal. Thomas Wörtche

»Jedes einzelne Bild will für sich genommen werden, es ist wie eine Explosion — eine Kontinuität wird es nicht geben, eine erlösende Aufklärung des Falles, eine Deutung der Welt. Eine Leere, die Muñoz inspirierend findet: ›Die grausame Welt bereichert unsere bildnerischen, erzählerischen Talente mit dem Fehlen von Bedeutung im Script des Lebens.‹« Fritz Göttler für die Süddeutsche Zeitung

 In der Farbgestaltung verzichtet Muñoz völlig auf Grautöne, setzt ganz auf den harten Kontrast von Schwarz und Weiß. Das ist nicht ungewöhnlich, wohl aber, wie viel Raum er dem Schwarz öfter gibt. So zeigt eine Doppelseite, wie Alack Sinner mit Enfer, seiner afroamerikanischen Freundin, schläft. Obwohl es in dem Zimmer höchstens halbdunkel ist, dominiert völlig das Schwarz; weiß sind nur die Körperkonturen und einige gezielt hervorgehobene Details.« Christoph Haas für die taz


5. »Kollektive Amnesie«​​​ Koleka Putuma SÜDAFRIKA*

Gedichte. Aus dem Englischen von Paul-Henri Campbell. Das Wunderhorn. 204 Seiten. 22,00 €

Putumas Gedichte stehen für eine ganze Generation: Messerscharf und hellsichtig zugleich seziert die junge, schwarze spoken-word-Lyrikerin das offene Herz einer Nation, die das Trauma der Apartheid noch immer nicht verwunden hat – und fordert, ausgehend vom eigenen Körper, einen Platz in ihrem Land. Claudia Kramatschek

»Der Band ist voller Überraschungen: Man begegnet verkappten Bühnenszenen, poetisch aufgeladenen Listen oder hintersinnig formulierten Lexikoneinträgen. […] Die Gedichte Putumas sind nicht nur eine Anklage an die Kolonisatoren von einst und die südafrikanische Gesellschaft von heute, sie weisen weit darüber hinaus. Wir lesen in diesem Band die Stimme einer neuen Generation, deren politische Poesie den Westen ebenso angeht wie die afrikanischen Gesellschaften.« Sieglinde Geisel für Deutschlandfunk Kultur

»Koleka Putuma ist eine Slam-Poetin. Sie bewegt sich mehr in einer Szene als auf einem literarischen Feld. Ihre Gedichte erzeugen Gemeinschaft. Sie sind auf starke emotionale Reaktionen ausgerichtet. Während ältere Generationen im postkolonialen Diskurs krampfhaft die ›Black Consciousness‹ irgendwie identifizierten und herausstellten, sorgen diese poetischen Arrangements besonders für ein unmittelbares, kollektives Erleben.« Paul-Henri Campbell für Neue Gesellschaft. Frankfurter Hefte

Bemerkenswert an Putumas Dichtung ist aber auch die Härte, mit der solche — seltenen — Aufschwünge zurückgenommen werden. Auf ein knappes Liebesgedicht lässt sie die ungleich längere Geschichte von Entfremdung und Trennung folgen; die Ankunft im »Gelobten Land« kontert die ganze zweite Sektion, die unter dem Titel »Begrabene Erinnerung« von Schmerz, Verlust und Trauer spricht. Angela Schader für die NZZ


6. »Meine Schwester, die Serienmörderin«​​​ Oyinkan Braithwaite NIGERIA*

Roman. Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. Blumenbar. 240 Seiten. 20,00 €

Zwei ungleiche Schwestern, aufs „Innigste“ ineinander verstrickt. Die eine schön und glamourös, Männer mordend im wahrsten Sinne des Wortes, die andere ein unscheinbarer Putzteufel, der hinter ihr aufräumt – wenn es sein muss, wird auch eine Leiche entsorgt. Und dann sind beide in denselben Mann verliebt. Ein schön böses, witziges und skurril-abgründiges Debüt. Unterhaltung mit Tiefgang. Anita Djafari

»[...] eine geradezu lehrbuchhaft in Szene gesetzte, spielerische Pulp-Genre-Reminiszenz, die allerdings hinter allem Augenzwinkern (und von hinten her betrachtet) eine so radikale wie glasklare feministische Haltung birgt. Und die mit einer grandiosen Schluss-Pointe zu verzücken weiß.« Ulrich Noller für den WDR

»Schnell und witzig, ironisch und böse funkelnd. Dieser Thriller hat einen Skorpionstachel, und seinen Stich vergisst man nicht.« Parul Sehgal für The New York Times (übersetzt)


7. »​​Der goldene Pavillon​« Yukio Mishima JAPAN

Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Kein & Aber. 336 Seiten. 22,00 €

1950 brannte ein junger Mönch den Goldenen Pavillon von Kyoto nieder. Yukio Mishima schrieb einen Roman darüber und schuf darin einen stotternden Pyromanen, dessen Seelenlage sich schwer zuspitzt. Eine Meditation über Glanz, Obsession und Zerstörung. Endlich neu übersetzt. Zu schön, um wahr zu sein! Katharina Borchardt

»Mishima packt in die Figur des Brandstifters ein Bündel an Reflexionen über Gut und Böse, Wahrheit und Verbrechen, das Leiden an der modernen Zivilisation und die damals in Japan noch stark empfundene Demütigung durch die Niederlage gegen die US-Amerikaner. Die kluge Neuübersetzung Ursula Gräfes bringt den Sturm und Drang des jungen Mannes und seine moralische Verwirrung sehr geschmeidig ins Deutsche. […] Die seelischen Abgründe treten dadurch ebenso plastisch hervor wie Beschreibungen des mitunter sinnenfreudigen Alltags und der lockeren Sitten der Tempelmönche.« Dirk Fuhrig für Deutschlandfunk Kultur

»Tatsächlich gleicht Mishimas Romanfigur dem realen Brandleger aufs Haar. Auch er ist ein junger Mann mit hemmender Sprachstörung. Demgegenüber macht sich bei ihm eine schier überschnappende Intelligenz bemerkbar. Mizoguchis Reflexionen bilden das Rückgrat von Mishimas bedeutendstem Roman.« Ronald Pohl für Der Standard 


Litprom empfiehlt für eine Übersetzung ins Deutsche

»​​Beirut Hellfire Society« Rawi Hage LIBANON/KANADA. Roman. Knopf Canada 2018

Der tragikomische Roman spielt während des libanesischen Bürgerkriegs. Protagonist Pavlov will die Menschen bestatten, denen eine traditionelle Beerdigung verweigert wird. Temporeich, stellenweise makaber, aber auch sensibel schreibt Hage über die ausgestoßenen Bewohner*innen einer kriegsgebeutelten Stadt.


*nominiert für den LiBeraturpreis 2021
**Die Übersetzung der Titel wurde unterstützt durch Litprom mit Mitteln des Auswärtigen Amts

Die Jury: Ilija Trojanow (Vorsitz), Katharina Borchardt, Anita Djafari, Andreas Fanizadeh, Claudia Kramatschek, Ulrich Noller, Jörg Plath, Ruthard Stäblein und Thomas Wörtche

Kontakt 
Anita Djafari 
Tel.: 069/2102-113
Fax: 069/2102-46113 
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