Als Reaktion auf die anhaltenden Debatten über das Klima und seinen dramatischen Wandel, hat die Jury der Litprom-Bestenliste »Weltempfänger« Texte und Autor*innen aus Asien, Lateinamerika und Afrika ausgewählt, die sich dem Thema widmen.
Am 22. April ist »Tag der Erde«. Bis zum 28. April erscheint täglich eine Empfehlung. Lasst uns gemeinsam dort hinschauen, wo Klimakrise und Umweltzerstörung seit Jahren schreckliche Realität sind.
Die Videos der Besprechungen gibt es bei uns auf Instagram!
Brennende Gasfackeln, stinkende, zähe, verschlammte Mangrovensümpfe, Wasser, das von einer Ölschicht überzogen ist — Helon Habila entwirft in seinem großartigen, spannenden Roman »Öl auf Wasser« (Übers. Thomas Brückner) ein fast apokalyptisches Szenario, das im Nigerdelta nah an der Wirklichkeit ist.
Die Geschichte geht so: Ein junger Journalist sucht nach der entführten weißen Ehefrau eines Ölkonzernmanagers und landet inmitten einer gigantischen Umweltzerstörung, die vor aller Augen stattfindet. Internationale Großkonzerne fördern Öl — ohne Rücksicht auf Umwelt und die dort lebenden Menschen. Habila verbindet diese Tatsachen mit einer Kriminalgeschichte — und schafft einen unvergesslichen, eindringlichen und wichtigen Roman. Wovon er erzählt, passiert nicht nur im Nigerdelta, nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent. Weltweit zerstören Konzerne im Namen des Profits die Umwelt und beuten Menschen aus. Daran erinnert »Öl auf Wasser« auf unnachahmliche Weise.
Sonja Hartl
Die Karibik ist verseucht, ein Virus grassiert, Roboter machen Jagd auf »illegale« Migrant*innen und die Menschen suchen ihr Heil in uralten Kulten. Wir schreiben das Jahr 2037. Vor der Küste der Dominikanischen Republik hat ein Tsunami eine gewaltige Umweltkatastrophe ausgelöst.
Rita Indianas experimenteller Science-Fiction-Roman »Tentakel« entführt mit schnellen Schnitten in eine dystopische Welt, in der Fragen von Race, Gender, Sex und Ökologie eng verknüpft sind. Da ist zum einen Acilde, eine junge androgyne Frau, die auf den Strich geht, der Arzt Eric, der ihre Dienste in Anspruch nimmt und ihr eine Anstellung als Dienstmädchen bei Esther verschafft. Esther ist eine Santera-Heilerin. Sie hütet eine geheimnisvolle Seeanemone, die die Gabe der Zeitreisen verleiht. Acilde, die sich mithilfe eines Medikaments einer Geschlechtsumwandlung unterzogen hat, reist in die Vergangenheit und wird zu Giorgio, einem Sternekoch, der zusammen mit seiner Frau Linda ein Forschungslabor zur Rettung der durch den Klimawandel bedrohten Korallenriffe aufbaut. Acilde hat es nun in der Hand, die ökologische Krise der Zukunft mitabzuwenden oder ihr eigenes Glück zu suchen.
Timo Berger
Er ist einer der großen zeitgenössischen Autor*innen Lateinamerikas: Tomás González, geboren 1950. Seine Romane und Erzählungen sind geprägt von Landschaft und Lebensart seiner Heimat Kolumbien. Insbesondere vom maritimen Lebensraum. In »Der Untergang des Pazifiks« ist das Meer Sehnsuchts- und Sterbeort, mystische Kraft und überbordender Müllkübel. Nie gibt es bei González nur das eine – jede Idylle ist bedroht, jedes Lebewesen sterblich, jede Lust vergänglich.
Ich-Erzähler Ignacito evoziert retrospektiv die Bilder eines letzten Familienurlaubs am Ufer des Pazifiks, während er, todkrank und von allen zurückgelassen, unter immer stärkeren Morphiumdosen, seinem Ende entgegendämmert. Realität und Fantasie verschwimmen. Das belebende Meeresufer erscheint plötzlich als grauer Morast, in dem Plastikflaschen und aufgetriebene Mangoschalen schwimmen, Styropor in allen Größen, Zahnbürsten. Weiße Reiher picken nach vergrabenen Sandalen. Wasser ist Lebensspender und Urgewalt. Es erweist sich als stärker als der Mensch, der schließlich stirbt. Die Tiefe des Pazifiks, all seine Wolken und Wale aber bleiben. »Der Untergang des Pazifiks« ist eine melancholische Meditation über das existenzielle Verhältnis von Mensch und Natur.
Carsten Hueck
Eine Muskatnuss erzählt Weltgeschichte. Das belegt Amitav Ghosh in seinem herausragenden Sachbuch »Der Fluch der Muskatnuss«.
Darin schlägt der Autor den Bogen von der Eroberung der indonesischen »Gewürzinseln« durch die Kolonialmacht Niederlande bis zur Verfolgung der amerikanischen indigenen Bevölkerung. Immer waren es die Europäer*innen, die alles Wertvolle in Besitz nehmen wollten. Die Heimat der lukrativen Muskatnuss reklamierten sie genauso für sich wie die fruchtbaren Lebensräume der amerikanischen Indigenen. Statt eines respektvollen Umgangs mit der Natur legten europäische Immigrant*innen allerorten Felder und Plantagen an. In dieser Tradition beuten Menschen die Erde bis heute aus und schicken Waren in Containerschiffen rund um die Welt. Kolonialismus und Klimawandel müssen zusammengedacht werden. Das liegt auf der Hand.
Amitav Ghoshs aufklärerisches Sachbuch liest sich wie ein Krimi. Zugleich zeigt es auf, welche vitalistischen Bewegungen wir brauchen, um uns aus dem Kreislauf der Zerstörung zu befreien.
Katharina Borchardt
40 Jahre lang kämpft ein kleines Dorf im Nirgendwo des postkolonialen Afrikas gegen den amerikanischen Ölkonzern Pexton. Die Bohrungen vergiften die Flüsse, verpesten die Luft, machen die Äcker unfruchtbar. Jahr um Jahr sterben die Kinder und immer neue Gräber werden ausgehoben.
Es ist das Jahr 1980, als sich die Dorfbewohner*innen treffen, um zu hören, was der Ölkonzern gegen die leckenden Pipelines unternehmen will, und sich spontaner Widerstand erhebt. Der Kampf um Wiedergutmachung, um Rückgewinnung des Landes, um Würde und Anerkennung beginnt. Dabei lautet die immer wiederkehrende Frage: Verhandeln oder Pipelines in die Luft jagen?
Was zu Beginn der Erzählung noch weit entfernt, irgendwo im Globalen Süden stattzufinden scheint, rückt uns nicht nur zeitlich immer näher. Die unersättliche Gier, das skrupellose Vorgehen der korrupten Regierung und die Verbrechen der Konzerne, die ungeschoren davonkommen, ist ein Muster, das überall auf der Welt den Glauben an Recht und Gerechtigkeit zerstört. Das zu zeigen ist das große Verdienst Mbues und ihrer glänzenden, wunderbaren Heldin Thula.
Ines Lauffer
Khaufpur, eine fiktive Stadt in Indien: Hier lebt Animal, der 19-jährige Ich-Erzähler in Indra Sinhas Roman »Menschentier«, der mit den Mitteln der Groteske an die tödliche Giftgaskatastrophe im indischen Bhopal im Dezember 1984 erinnert.
Bis heute leiden dort die Menschen unter den Langzeitfolgen, so auch Animal: Kurz vor dem Unglück kommt er zur Welt; mit 6 Jahren beginnt sein Körper sich zu verformen. Bis er eines Tages nur noch auf allen Vieren kriechen kann, wie ein Tier. Ein Opfer, könnte man denken. Doch diese Rolle lehnt Animal vehement ab: Mensch möchte er nicht mehr sein, in einer Welt, in der man Menschen wie Tiere behandelt. Stattdessen flucht er wie ein Seemann und liebt wie ein Ertrinkender: Als eine junge amerikanische Ärztin im Ort eine Klinik für die Giftgas-Geschädigten eröffnet, ist es um ihn geschehen. Und während er versucht, endlich einmal auf der richtigen Seite im Leben zu stehen, entlarvt er in einer wüst-wilden Litanei die Verlogenheit der Mächtigen — und erweist den Unterdrückten der Erde zärtlich Reverenz.
Claudia Kramatschek
24 Länder, 11 Sprachen — »Harvest Moon« ist eine vielstimmige Anthologie, die zum Entdecken einlädt. Sie versammelt Gedichte und Geschichten, Essays und Fotos zum Klimawandel – und zwar aus dem Globalen Süden, der bereits jetzt massiv davon betroffen ist. Gegliedert ist der Band in vier Großkapitel, die vier Mondphasen repräsentieren und die dem Band etwas Zyklisches geben.
Zwei persönliche Highlights:
Das Gedicht Prière d’un Enfant du Monde von dem Kongolesen Fiston Mwanza Mujila. Aufgebaut wie ein Gebet, hinterfragt ein betendes Kind den anhaltenden Regen, der alles aufweicht. Am Ende gibt es eine der für Mujila typischen drängenden Wiederholungen einer Phrase: „Elle tombe la pluie“ (the rain falls). Ungemein kraftvoll!
Luisa Iglorias Text Impossible Bottles. Darin schlägt sie den Bogen von den frühen Eroberungen der Kolonialnationen bis hin zu den immensen Containerschiffen der Gegenwart. Eine Chronik menschlicher Gier — verfasst in lyrischer Kurzprosa.
Ein warmherziges und solidarisches Buch.
Sonja Hartl und Katharina Borchardt